„Krieg und Frieden“ 2010
Gabriel Feltz im Gespräch mit Irene Ferchel. Erschienen im Begleitheft zur Konzertreihe der Stuttgarter Philharmoniker.
Nicht nur im Elfenbeinturm musizieren
Wie kamen Sie auf die Idee, die Konzertreihe Sextett unter das Thema „Krieg und Frieden“ zu stellen – liegt dies für einen Dirigenten nicht eher fern?
Das Thema hat mir eigentlich schon immer unter den Nägeln gebrannt, denn ich finde es sehr wichtig, dass Kunst Stellung bezieht, dass sie Zustände des Lebens und damit menschliche Seelenzustände widerspiegelt. Wenn wir als Musiker die Möglichkeit haben, mit Konzertprogrammen ein Thema zu umreißen, auch ein schmerzhaftes oder provozierendes – zumal am 70. Jahrestag des Kriegsbeginns –, sollten wir das tun.
Besonders die Frage, warum Krieg und Frieden so eine permanent große Rolle in der Menschheitsgeschichte einnehmen, hat mich schon lange beschäftigt. Es geht ja damit los, dass man als Drei- oder Vierjähriger anfängt, Krieg zu spielen, das habe ich auch gemacht und mein Sohn wird es sicher auch tun, Verbote nützen da wenig. Es liegt wohl in der menschlichen Natur, von Kindesbeinen an die Bereitschaft zu einer Art Wettkampf, Duell oder Auseinandersetzung in sich zu tragen. Ohne dies wäre der Jahrtausende alte Mythos des Heldentums undenkbar, welcher bei„Krieg und Frieden“ eine große Rolle spielt …
Erschreckend fand ich immer, dass der Krieg bis zu den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts mit Millionen Opfern ein völlig legitimes Mittel der Politik war.
Neben den Themen der anderen Konzertreihen wie Nachtmusik, lauschen & lesen, Wiener Wunderkinder etc. wirkt Krieg und Frieden fremd. Wie haben Sie die Musik dazu gefunden?
Das musikalische Repertoire ist unglaublich reich, wir hätten sicher sehr viel mehr Konzerte füllen können, denn es gibt viele Kompositionen, die Konflikte widerspiegeln. Auch wenn entscheidende Schlachten weltgeschichtliche Bedeutung haben, würde ich Krieg nicht nur auf Schlachtengetümmel begrenzen.
Nehmen wir als Beispiel den Komponisten Dmitri Schostakowitsch, dessen 8. Sinfonie in dem Zyklus erklingen wird. Sein Leben war geprägt von einem latenten Dauerkonflikt mit einem Verbrechersystem unter Stalin und seinen Schergen in der Sowjetunion. Schostakowitsch war mehrere Jahrzehnte in akuter Lebensgefahr und hat deshalb unter furchtbaren Ängsten gelitten. Er hat erlebt, wie Kultur zensiert und gegängelt wurde. Viele von seinen Freunden, auch bedeutende künstlerische Persönlichkeiten der sowjetischen Kulturszene, wurden ins Arbeitslager deportiert, gefoltert oder ermordet. Trotz der Gnade des Überlebens war Schostakowitsch auch nach Stalins Tod davon gezeichnet. Dies ist auf Fotografien jener Jahre deutlich erkennbar.
Wie spiegelt sich das in seiner Sinfonie?
Die Entstehung der 8. Sinfonie hat 1943 von der offensichtlich nachlassenden Zensur der kommunistischen Machthaber profitiert. Es war damals im Schatten des Kriegsgeschehens wieder erlaubt, dramatische und nicht mehr nur „verordnet“ optimistische Musik zu schreiben, so dass Schostakowitsch seinem künstlerischen Schaffensimpuls nachgehen konnte.
Interessant ist aber, wie diese 8. Sinfonie dann kritisch beäugt wurde: 1943 war der Sieg der Roten Armee über die deutsche Wehrmacht schon absehbar und Schostakowitsch wurde für dieses Stück angefeindet, als sei er auf der Seite der Faschisten, ein Konterrevolutionär, weil er düstere Musik schrieb. Es gab solche primitiven Vorwürfe in einem Ausmaß, das können wir uns heute gar nicht mehr vorstellen. Dabei ist dieses Stück eine zutiefst menschliche Reflexion jener furchtbaren Kriegsjahre.
Die Zeitgenossen haben seine Musik als politische Äußerung interpretiert?
Das geht aus den Memoiren des Dmitri Schostakowitsch hervor, von seinem engen Freund Solomon Wolkow kurz nach seinem Tod 1976 im Westen herausgegeben. Es wurde in der Sowjetunion sofort als reine „imperialistische Propaganda“ verunglimpft und verboten. Ungefähr als ich zwölf Jahre alt war, schmuggelte mein Vater ein Exemplar in die damalige DDR und ich habe es sofort verschlungen.
Schostakowitsch wurde in diesem Buch nicht nur als der mit Ehrungen überhäufte „Staatskomponist“ dargestellt, wie es in der sowjetischen Presse der 60er und 70er Jahre üblich war. So äußerte er sich zum Beispiel über seine 7. Sinfonie, er habe sich damit schon vor dem Krieg beschäftigt, sie sei also nicht allein das Echo auf den Einmarsch der Nazis, wie immer behauptet wird, sondern er dachte dabei auch „an ganz andere Feinde der Menschheit“, als er das berühmte Thema des 1. Satzes komponierte.
Natürlich war ihm Faschismus verhasst, aber nicht nur der deutsche, sondern jeder, und es ist klar, was und wen er damit meint.
Als die 8. Sinfonie aufgeführt wurde, nannte man sie konterrevolutionär und antisowjetisch. Das war sehr schwer für Schostakowitsch, vor allem weil der Westen auf seine Stücke so positiv reagierte und alles dort gespielt wurde. Allerdings war er durch diese Anerkennung gewissermaßen auch geschützt, deshalb konnte man ihn nicht so leicht liquidieren.
Wie ist es bei den anderen Komponisten und Musikstücken?
Es gibt eine Parallele zwischen dem Zweiten Weltkrieg und den Eroberungsplänen Napoleons. Napoleons Angriff auf Russland mit seiner großen Armee und der Beginn der „Operation Barbarossa“ (Hitlers Weisung zum Angriff auf Sowjetrussland)– beide Feldzüge begannen an einem gleichen Datum, dem 22. Juni 1812 sowie dem 22. Juni 1941. Dem russischen Volk, offenbar mit einem besonderen Talent für erbitterte Verteidigungskämpfe ausgestattet, gelang es jedes Mal unter allergrößten Anstrengungen, den Gegner zu bezwingen. Wir spielen die Ouvertüre 1812 von Tschaikowsky, die Napoleons Niederlage illustriert und eben die 8. Sinfonie von Schostakowitsch als Werk für den Zweiten Weltkrieg. Dies bildet eine Säule im Konzertzyklus.
Außerdem gab es noch einmal einen deutsch-russischen Konflikt, die Schlacht auf dem vereisten Peipussee am 5. April 1242, wo das deutsche Heer von den Russen unter Führung von Alexander Newski geschlagen wurde – nach diesem Fürsten heißt Sergej Prokofjews Kantate, die er für den gleichnamigen Film von Sergej Eisenstein komponierte. Das Stück wurde 1938 geschrieben, und ein so feingeistiger Mensch wie Prokofjew, der auch unter dem stalinistischen Terror litt, hat sicher bemerkt, dass die Welt auf eine neue Konfrontation zusteuerte. Insofern steht auch dieses Werk stellvertretend für den Zweiten Weltkrieg.
Dann haben wir bei Bedøich Smetana einen phantastischen Stoff mit „Šárka“ aus dem Zyklus Mein Vaterland: eine Amazonensage, vergleichbar Kleists Penthesilea. Dort kommt es aus einer unglücklichen Liebe zu einem einzelnen Mann und daraus resultierender Feindschaft gegenüber dem ganzen Männergeschlecht heraus zu einem Komplott. Musikalisch wird ganz genau illustriert, wie eine Gruppe von Kriegern in den Wald kommt und ein Lager aufschlägt, wie gefeiert wird und als alle eingeschlafen sind– man hört sogar, wie sie schnarchen! –, sie von den Amazonen umgebracht werden. Wie viele Sagen recht blutrünstig.
Smetanas „Mein Vaterland“ ist also keineswegs ein Friedenskonzert?
Nein, in seiner sechsteiligen sinfonischen Dichtung gibt es auch „Blaník“, so hieß die Reiterei der Hussitenkriege, und selbst „Vyšehrad“ steht für Auseinandersetzungen, denn auch die Stadt Prag hat Belagerungen erlebt.„Die Moldau“ hingegen als naturalistische Schilderung geht in Richtung der Beethovenschen Pastorale, wo die Natur fast pantheistisch erscheint und dem Menschen den Frieden bringt, weit entfernt von militärischen Konflikten.
Wenn Sie eine Partitur lesen, bemerken Sie darin kriegerische Elemente, fällt es Ihnen auf, wenn Motive auf Militärmärsche zurückgehen?
Das ist einfach bei Tschaikowskys Ouvertüre 1812, man könnte sagen: am Anfang steht ein russisch-orthodoxer Gesang, das heißt, die Leute gehen in die Kirche und beten um Schonung vor dem Krieg, oder wenn die Marseillaise erklingt, weiß man, dass die französischen Truppen anrücken.
Aber meistens sind die Stücke komplizierter und ich frage mich eigentlich immer, was es bedeuten soll, unabhängig von Krieg und Frieden. Eine Bedeutung muss natürlich nicht immer außermusikalisch sein, sie kann im Werk selbst liegen wie bei einer Bruckner-Sinfonie, also absolute Musik sein.
Es gibt jedoch genug Werke, wo es hilfreich ist, das historische Umfeld zu kennen – wenn Mozart etwa in der Entführung aus dem Serail Janitscharenmusik imitiert, dann hört man die Türken vor Wien, das spielt einfach rein.
Man kann in der Kunst zeitpolitisch sensibel sein und seismografisch die Stimmung der jeweiligen Zeit aufzeigen. Es ist wichtig, nicht nur „im Elfenbeinturm“ zu musizieren. Die Schönheit in der Kunst ist bedeutsam, aber sie ist nicht alles, es sollte doch eine Form von elementarer Aussage über die Schönheit hinaus geben.
Ist es Zufall, dass Sie sich im Konzertzyklus wesentlich auf drei Kriege konzentrieren, die Napoleonischen, den Ersten und Zweiten Weltkrieg?
Ich hätte gerne etwas aus der Antike dabei gehabt, aber da war nichts recht tauglich und eine Filmmusik zu einem Sandalenfilm wäre uns zu platt gewesen. Die von Ihnen genannten Konflikte sind außerdem in ihrer weltpolitischen Auswirkung einmalig.
Welche Rolle spielt Die Csárdásfürstin am fünften Konzertabend?
Man mag kaum glauben, dass Die Csárdásfürstin von Emmerich Kálmán im Sommer 1914 gleichzeitig mit den Drei Orchesterstücken op. 6 von Alban Berg komponiert wurde. Das eine ist die typische Operette, glamourösmelodische Musik in prachtvoller Instrumentation, die ein scheinbar unbeschwertes Leben vorführt und mit regelrechten Hits daherkommt: „ganz ohne Weiber geht die Chose nicht“ …
Berg dagegen nimmt ein Orchester, das drei oder viermal so groß ist wie das Operettenensemble und schreibt einen Marsch, der zwölf Minuten dauert und zum Kompliziertesten gehört, was wir in der Orchesterliteratur haben. Dieser zeichnet den Schrecken und das Trauma, welches der Erste Weltkrieg darstellt, vorweg. Es ist eine extrem düstere, teilweise beinahe gewalttätige Musik mit prophetischem Charakter, kaum auf harmonische Grundstrukturen festzulegen, während Die Csárdásfürstin fast nur mit herkömmlichen Akkorden auskommt. Man denkt, dass die beiden Stücke zeitlich achtzig bis hundert Jahre auseinander liegen, obwohl sie aus demselben Sommer stammen.
Hatte die Operette schon die Funktion der Ablenkung vom drohenden Krieg?
Diese Funktion hatte Musik gelegentlich schon, aber im August 1914 ahnte sicher der Großteil der europäischen Bevölkerung noch nicht, was sie erwartet. Aus vielen Zeitzeugenberichten weiß man, dass ein möglicher Krieg zu diesem Zeitpunkt noch als großes Abenteuer angesehen wurde und viele glaubten im Sommer, bis Weihnachten sei alles vorbei.
Wurde im Ersten Weltkrieg noch und wie lange wurde überhaupt Musik eingesetzt?
Heeresverbände, die sich musikalisch spezialisiert haben, gab es immer und gibt es heute noch. Natürlich im Ersten und sogar im Zweiten Weltkrieg. Der deutschen Luftwaffe beispielsweise wurde 1940 ein ganzes Unterhaltungsorchester zur Verfügung gestellt, denn es sollte verhindert werden, dass die Piloten die englischen und amerikanischen„Feindsender“ mit Foxtrott und Blues hörten. Also wurde ähnliche Musik geschrieben, vom erwähnten Luftwaffenorchester eingespielt und gesendet, eine Art von falschem „Nazi-Jazz“. Ist das nicht absurd?
Über viele Jahrhunderte wurden im Schlachtengetümmel Trompeten und Pauken zur Koordination der Reiterei eingesetzt, zur Sortierung von Heeren und zum Mutmachen. Fanfaren bliesen zum Angriff oder leiteten den Rückzug ein. Mit der Nutzung von Fernschreiber, Telefon und Funk entfiel dies alles, aber Musik spielt immer noch eine große Rolle zur Repräsentation militärischer Stärke.
Wenn man bei „youtube“ „1812“ eingibt, kann man fünf Aufnahmen des Stückes hören und dazu sehen, wie auf Armeestützpunkten Batterien abgefeuert werden oder Flugzeuge darüber fliegen. Das hat etwas Abstoßendes und ist eine gigantische Show der Waffenverherrlichung.
Also bewegen wir uns in einem Bereich, wo man Musik missbrauchen kann und vielleicht spricht es sogar für Tschaikowsky, dass er über „1812“, eines seiner erfolgreichsten Stücke, sagte, er habe es „ohne Herzblut“ geschrieben.
Was wünschen Sie sich als Publikumsreaktionen auf die Konzertreihe?
Wir haben viel darüber diskutiert. Es gab die Sorge, dass es ein zu brachiales Thema sei, aber ich finde, wir sollten den Mut haben, auch Schreckliches zu thematisieren. Mit der Gnade der sogenannten „späten Geburt“ sind wir alle in Mitteleuropa in der privilegierten Situation, seit sechzig Jahren in Frieden zu leben, solche langen Friedenszeiten gab es vorher in der europäischen Geschichte nie.
Wir hätten viel erreicht, wenn die Leute in die Konzerte gehen und beeindruckt sind von den Werken, die wir aufführen werden. Sicher, Berg oder Schostakowitsch kann man nicht jeden Tag hören, denn diese Musik sollte den Hörer regelrecht bestürzen. Eine Art Maximalziel wäre ein Nachdenken und Diskutieren unseres Publikums darüber, was uns Menschen dazu treibt, immer wieder in Konflikte zu geraten und Kriege zu führen. Aber bitte verstehen Sie mich nicht falsch, das ist weder belehrend noch missionarisch gemeint.
Bei Krieg und Frieden denken viele Menschen an den gleichnamigen Roman von Leo Tolstoi, hatten Sie die Assoziation auch?
Wir hatten anfangs überlegt, die nach dem Roman komponierte Oper von Sergej Prokofjew aus den 1940er Jahren in das Programm aufzunehmen. Dieses vierstündige Werk hätte aber jeden Rahmen eines Konzertes gesprengt.
Die Fragen stellte Irene Ferchl